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Als die Computer rechnen lernten

Meisterstück der Ingenieurskunst: Die Göttinger Rechenmaschine G3, hier beim Betriebsbeginn im Jahr 1960. An der Konsole Billings Mitarbeiter Arno Carlsberg. Foto: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft

Meisterstück der Ingenieurskunst: Die Göttinger Rechenmaschine G3, hier beim Betriebsbeginn im Jahr 1960. An der Konsole Billings Mitar beiter Arno Carlsberg, Fotograf / Quelle: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft.

27. Februar 2020
Wissenschaft ohne Computer? Heute undenkbar! Vor mehr als einem halben Jahrhundert war das allerdings normal. Anfang der 1950er-Jahre trat dann der Mathematiker und Physiker Heinz Billing auf den Plan – und brachte der Max-Planck-Gesellschaft das elektronische Rechnen bei. Mit der „Göttingen 1“ sollte alles beginnen. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Magazins "MaxPlanckForschung"
Von Tim Schröder, MaxPlanckForschung

Viele Studenten im Göttinger Max-Planck-Institut für Physik wunderten sich, wenn sie zum ersten Mal zum Hörsaal gingen. Im letzten Raum auf der rechten Seite tuckerte es laut. Durch die Milchglasscheibe der Zimmertür war nichts zu erkennen. Durch die Lüftungslöcher aber, die jemand unten ins Türblatt gebohrt hatte, klang ein mächtiges Ticken wie von 100 Uhrwerken. Zunächst wusste kaum einer der jungen Studenten, was sich hinter der Milchglasscheibe verbarg. Und die Aufschrift „G1“ neben der Tür machte alles noch viel rätselhafter. Wenn Heinz Billing dann in einer Vorlesung das Geheimnis lüftete, war die Faszination umso größer. Die G1 war so etwas wie der erste deutsche Supercomputer. Und ihr Schöpfer Heinz Billing der Pionier, der der Max-PlanckGesellschaft das elektronische Rechnen in großen Dimensionen beibrachte. Damals, 1952, hatten die meisten Deutschen andere Dinge im Kopf. Der Krieg hatte ein verwüstetes Land hinterlassen. Die Menschen versuchten, in den Alltag zurückzufinden. Und auch an den Hochschulen und Forschungsinstituten kam der Wissenschaftsbetrieb nur langsam wieder in Gang. In der MaxPlanck-Gesellschaft dachte damals kaum jemand daran, dass dereinst Großrechner Fragen der Astro- und Plasmaphysik beantworten würden. Heinz Billing schon.

Heinz Billing hatte in den 1930er-Jahren Mathematik und Physik studiert. Nach seiner Promotion bewarb er sich 1938 bei der Aerodynamischen Versuchsanstalt (AVA) in Göttingen, um dem Wehrdienst zu entgehen. Dennoch wurde er einberufen. Zum Glück kam es nicht zu einem Einsatz an der Front: Der ehemalige Direktor der AVA konnte die Behörden davon überzeugen, dass Billing für das Institut „unabkömmlich“ sei. Da der Radar damals noch nicht ausgereift war, sollte Billing Mikrofone für Jagdflugzeuge entwickeln, die feindliche Flugzeuge am Propellergeräusch erkennen sollten. Dazu mussten aber die Geräusche des eigenen Propellers unterdrückt werden. Billing kam auf die Idee, die eigenen Propellergeräusche im Mikrofonsignal zu dämpfen. Dafür nahm er das Propellergeräusch auf Tonband auf. Dieses klebte er auf eine kleine Drehtrommel, sodass ein Endlos-Tonband entstand, mit dem er experimentieren konnte. Zwar klappte die Geräuschunterdrückung nicht, weil das Propellerbrummen zu unregelmäßig war. Doch hatte Heinz Billing damit – ohne es zu ahnen – den Schlüssel zum ersten deutschen Forschungscomputer in der Hand. Nach Kriegsende ruhte die Arbeit für mehrere Monate. Erst im Herbst 1945 ging es weiter. Institute des Vorläufers der MaxPlanck-Gesellschaft, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, zogen in die alten AVA-Gebäude ein, darunter das Institut für Physik mit Werner Heisenberg, Max von Laue und Carl Friedrich von Weizsäcker, außerdem Max Planck und Otto Hahn. Heinz Billing war jetzt in bester physikalischer Gesellschaft. Er suchte nach einem neuen Betätigungsfeld und baute das Labor für Hochfrequenztechnik auf. Im Spätsommer 1947 besuchten englische Computerfachleute das Institut, darunter auch der englische Informatikpionier Alan M. Turing, der im Zweiten Weltkrieg die deutsche Verschlüsselungsmaschine Enigma geknackt hatte. Von den Engländern erfuhr Heinz Billing, dass diese an einem elektronischen Rechenautomaten arbeiteten, der Automatic Calculation Engine. Er war begeistert und begann, einen eigenen Rechenautomaten zu entwerfen: die „Göttingen 1“ – G1. Im Juni 1950 war die Maschine fertig. Genau wie heutige Computer arbeitete sie mit dem binären Code, bei dem Buchstaben oder Ziffern mit Nullen und Einsen dargestellt werden – die Ziffer 1 zum Beispiel mit „0001“. In Billings Rechenmaschine wurden die Zustände 0 und 1 zum großen Teil mit mechanischen Relais umgesetzt, die zwischen „Strom an“ für die 1 und „Strom aus“ für die 0 hin- und herschalteten. Etwa 100 Relais klickten und klackten ohne Unterlass und erzeugten permanent ein Geräusch, das den Studenten auf dem Weg zum Hörsaal in den Ohren klang. Neben den Relais verbaute Billing auch 476 kleine Elektronenröhren, wie man sie in Röhrenradios benutzte. Diese konnten deutlich schneller hin- und herschalten als die mechanischen Relais. Herzstück der G1 war ein Magnettrommelspeicher, wie Heinz Billing ihn wenige Jahre zuvor konstruiert hatte. Obwohl dieser mit 3000 Umdrehungen pro Minute rotierte, war seine Leistung – verglichen mit heutigen Computern – winzig. Der Speicher hatte eine Kapazität von 26 Zahlen. Eine Rechenoperation wie zum Beispiel eine Multiplikation dauerte etwa eine Sekunde. Damals aber war das rund zehnfach schneller als mit den üblichen mechanischen Rechenautomaten. Für die Kollegen aus der Physik war die G1 ungeheuer wichtig. Vor allem Ludwig Biermann, der Chef der Astrophysik in Göttingen, nutzte die Maschine. Biermann war derjenige, der neben Billing das Potenzial der elektronischen Rechenmaschinen für die Forschung erkannte. Ludwig Biermann bestärkte Heinz Billing darin, neue Maschinen zu bauen. So folgte 1955 die G2, die nur noch Elektronenröhren enthielt und zehnfach schneller als ihre Vorgängerin war. Friedrich Hertweck, der damals in Göttingen studierte und später den Bereich Informatik des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Garching leitete, erinnert sich gut an die Zeit. „Ich war von der G1 hinter der Milchglasscheibe und der G2 fasziniert – und habe ein wenig Geld damit verdient, nachts die Maschinen zu bewachen“, sagt Hertweck heute. Da die Speicher der G1 und G2 noch so klein waren, wurden Rechenprogramme mit Lochstreifen in die Maschinen eingelesen. Auch Zwischenergebnisse wurden in Lochstreifen gestanzt und dann gleich wieder für neue Rechenoperationen in die Maschine eingefüttert. Manchmal sprang ein Streifen aus der Führung, oder ein Relais hakte. „Dann musste nachts jemand da sein, der die Störung behob“, sagt Hertweck. An Heinz Billing erinnert sich Hertweck sehr gut: „Billing war ein energiegeladener Mensch – und trotzdem ein ruhiger Typ, der des Öfteren mit einer Zigarette im Mund an der Tür lehnte.“ Für Friedrich Hertweck besteht Billings Leistung darin, dass er der Wissenschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren Rechenmaschinen zur Verfügung stellte, als es auf dem freien Markt noch gar keine Großrechner gab.

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Damals schwankten viele Wissenschaftler zwischen Begeisterung für die neumodischen Rechenmaschinen und Ablehnung. Eine astrophysikalische Arbeitsgruppe aus Heidelberg bat die Göttinger damals, die Bahn eines neu entdeckten Asteroiden mit der G2 zu berechnen. Die Heidelberger selbst ließen die Berechnungen von etwa 20 Sekretärinnen an kleinen Tischrechenmaschinen durchführen. Die Ergebnisse aus Göttingen wichen schließlich deutlich von denen aus Heidelberg ab, sodass man in Heidelberg glaubte, der Göttinger Rechner habe versagt. Später zeigte sich, dass nicht die Maschine, sondern die Kalkulationen aus Heidelberg zu ungenau waren. „Es hat bis in die 1960er-Jahre gedauert, bis sich die Einsicht durchsetzte, dass Großrechner wichtig für die Forschung sind“, sagt Hertweck. Im Jahr 1958 wurde das Max-Planck-Institut für Physik aus Göttingen nach München verlegt und in Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik umgetauft. Der G2 folgte 1960 die G3, die pro Sekunde bereits 5000 bis 10 000 Rechenoperationen schaffte. Zu dieser Zeit kam mit der IBM 7090 auch der erste kommerzielle Großrechner auf den Markt. Heinz Billing war derjenige, der die Max-Planck-Gesellschaft stets bei der Anschaffung dieser mehrere Millionen Mark teuren Maschinen beriet. So wurde er Vorsitzender des 1968 gegründeten Beratenden Ausschusses für Rechenanlagen. Obwohl Heinz Billing als Computerpionier seiner Zeit voraus war, wurde er nicht zu einem großen Fabrikanten kommerzieller Rechner. Das war auch nicht nötig. „Ich glaube, dass er absolut zufrieden war damit, dass seine Maschinen etlichen wissenschaftlichen Projekten den Weg ebneten“, sagt Friedrich Hertweck. Nachdem nach und nach immer mehr industrielle Großrechner auf den Markt kamen, stieg Billing wieder in sein altes Kerngebiet, die Physik, ein. Er arbeitete jetzt als Astrophysiker und beschäftigte sich damit, die von Albert Einstein postulierten Gravitationswellen – die kosmischen Echos des Urknalls – nachzuweisen. Heinz Billing lebt heute in Garching. In den Wochen um seinen 100. Geburtstag im April 2014 meldeten US-Forscher, mit einem Detektor in der Antarktis erstmals Gravitationswellen gemessen zu haben – was sich später jedoch als Irrtum herausstellte. Vielleicht aber sind Heinz Billings Leidenschaft am Ende doch die Großrechner gewesen. „Manchmal höre ich meinen Vater im Schlaf reden“, sagt sein Sohn Heiner Billing. „Vor einigen Tagen erst sagte er: ,Jetzt müssen wir mal durchrechnen, mit welchen Algorithmen wir zwei große Zahlen multiplizieren können.’“

Quelle: 2|15 MaxPlanckForschung

 

 

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